Nadrag: Arbeitslosigkeit, Alter, Armut
Es ist Ende Oktober, die holprige Straße schlängelt sich durch ein kleines Tal im Banat/Rumänien, noch 20 km bis zum Ziel. Das Herbstlaub leuchtet in den schönsten Farben, dazwischen das Grün der Nadelbäume und ein Bach. Wer sich dem Ort Nadrag in der Temescher Berglandschaft nähert, fährt durch eine malerische Gegend. Im Dorf angekommen, ist das schöne Herbstbild schnell vergessen. Das stillgelegte Hüttenwerk, bis 1998 der wichtigste Arbeitgeber in Nadrag, bietet mit seinen eingeschlagenen Fenstern das Bild einer Geisterstadt. Die niedrigen Häuschen – und weiter im Zentrum die viergeschossigen Plattenbauten – zeigen die Not der Bevölkerung. Früher wurden die Wohnungen mit Fernwärme aus der Fabrik beheizt, aber das war einmal. Wer sich keine Gasheizung leisten kann – das sind die meisten! – stellt einen Ofen in die Küche und schlägt ein Loch für das Ofenrohr durch die Wand. Holz ist das billigste Heizmaterial. Durch die Feuchtigkeit sind viele Wände fast schwarz vom Schimmel. All das kenne ich schon seit Jahren, bin jedoch immer wieder betroffen von dem, was ich sehe und erlebe. Auf der Suche nach Arbeit sind viele Menschen weggezogen. „Nach Italien, Spanien und Deutschland“ sagt Josef Hollschwandner. Seit dreißig Jahren ist er Pfarrer in Nadrag, kennt fast alle Familien. Geblieben sind die Alten und Kranken. Sie sind die Verlierer der politischen und wirtschaftlichen Wende. Von ihren Minirenten (oft weniger als 100 €) müssen sie auch Miete und Medikamente bezahlen. Sie leben mehr schlecht als recht, einige ohne Strom und fließendem Wasser, in ihren kleinen Wohnungen. In Deutschland sagt man „zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel“, die Rumänen sagen „es reicht nicht fürs kalte Wasser“.
Im Jahre 2001 kam ich erstmals nach Nadrag, sah die graue Tristesse und die Not der Menschen, besonders die der Alten und Kranken. So kam mir der Gedanke, mit Hilfe der Caritas Temeschwar eine Senioren-Suppenküche zu organisieren. Im Sommer 2003 gründete ich mit fünfzehn Gleichgesinnten aus Münster die Interessengemeinschaft Hilfe für Nadrag. Inzwischen finanzieren ca. einhundert Personen und Firmen die Suppenküche. Aktuell (Dez. 2014) bekommen fünfzig Personen von Montag bis Freitag ein warmes Mittagessen. Den Kranken wird das Essen gebracht, für sie ist der tägliche Kontakt mit dem Caritas-Mitarbeiter ein wichtiger Beitrag gegen die Vereinsamung.
Im Frühjahr und im Herbst fahre ich nach Nadrag, prüfe die Abrechnung für die Suppenküche und überzeuge mich von der Einhaltung der vertraglich vereinbarten Leistungen in der Sozialstation. Danach besuche ich mit Herrn Grün – Geschäftsführer der Caritas Temeschwar – Empfänger der Suppenküche. Dieses Mal waren wir bei den Eheleuten Susana und Constantin St. Sie wohnen etwas außerhalb des Dorfes in einem kleinen Haus. Eine Küche mit Ofen, rechts eine kleine Stube und links ein noch kleineres Schlafzimmer, zusammen ca. 40 qm. Wasser holen sie aus dem Brunnen, das weiße Toilettenhäuschen aus Holz steht unter Obstbäumen neben dem Garten. Frau St. spricht gut Deutsch. Sie erzählt aus ihrem Leben. Zusammen bekommen sie 870 Lei (ca. 200 €) Rente monatlich. Kürzlich wurde sie an den Augen operiert. Die Operation musste sie teilweise selbst bezahlen. „Die Medikamente, der Strom und und und, es reicht nicht vorne und nicht hinten“, sagt Frau St. mit zittriger Stimme. Mit knapp 91 Jahren kann Herr St. das Brennholz nicht mehr selbst besorgen. Es wird gebracht und ist sehr teuer. In Deutschland gibt es Pflegedienste für alte Menschen; davon können die Zwei nur träumen. (Anmerkung: Viele Pflegekräfte in Deutschland kommen aus Rumänien, auch aus Nadrag). Das Ehepaar ist froh und dankbar, dass sie ihr tägliches Mittagessen aus der Sozialstation bekommen. Es folgt ein herzlicher Abschied, die Augen der beiden Alten sagen mehr als viele Worte. Am nächsten Morgen geht es auf die Heimreise. Die Nacht war kalt, die Autoscheiben vereist. Die Sonne scheint in das Tal und wieder leuchten die Bäume in herbstlichen Farben. Mit einem guten Gefühl fahre ich nach Deutschland, zurück in eine bessere Welt.