Arbeitslosigkeit, Armut, Alter
Einst war Nadrag eine blühende Industriestadt, heute prägen Arbeitslosigkeit und Not den Alltag.
von Martin Reiter
Eine etwas holprige Landstraße durchschlängelt die lebhaften Herbstfarben von unterschiedlichsten Braun-Rotnuancen mit Goldakzenten, ab und zu ergänzt vom lebhaften Frühlingsgrün der ewigen Nadelbäume. Sie bilden die Waldlandschaft, die den Besucher willkommen heißen, der sich der sich der Temescher Berglandortschaft Nadrag/Nadrag nähert. Sobald man in Nadrag eingetroffen ist, ist aber das malerische Herbstbild im Nu vergessen. Die grauen Bauten, die das stillgelegte Hüttenwerk, vor der Wende noch der größte Arbeitgeber im Ort beherbergten, verweisen schon auf das traurige Schicksal des einst blühenden Industriestädtchens. Die auf beiden Seiten sich aus dem Boden quetschenden niedrigen Häuser und, weiter aufwärts, die zwei-, drei-, viergeschossigen Wohnblocks, wo eine bereits ziemlich überalterte Bevölkerung lebt, lassen an allen Ecken die Not durchblicken. Selbst der Cornet-Bach, der die Bergortschaft durchfließt, widerspiegelt die Farben des Elends hier in Nadrag: dunkelgrau, schwarz. Nicht einmal das rot angestrichene Gebäude, wo das Bürgermeisteramt mit dem Kommunalrat untergebracht sind, kann die bedrückende Atmosphäre aufleben lassen. Überall riecht es nach Armut. Arbeitslosigkeit und Not haben seit zwei Jahrzehnten von Nadrag Besitz ergriffen und wollen auch scheinbar auch in Zukunft von ihrer Beute nicht lassen.
Den 2913 beim Bürgermeisteramt registrierten Bewohnern von Nadrag stehen kaum Arbeitsplätze zur Verfügung. Laut Übersichten des Bürgermeisteramtes sind bei den staatlichen und privaten Einrichtungen ungefähr 400 Personen beschäftigt, wobei die Anzahl der eingetragenen Rentner bei 702 und der Arbeitslosen bei 80 liegt. Auf der Suche nach Arbeit, sind die Erwachsenen größtenteils in die Städte Lugosch/Lugoj und Temeswar/Timisoara oder ins Ausland gezogen. „Nach Spanien und Deutschland“, so der römisch-katholische Ortspfarrer Josef Holschwander kopfschüttelnd. Der Seelsorger erlebt die Wirklichkeit hautnah. Er erwähnt auch die vielen leerstehenden Häuser, die die Einheimischen vor ihrem Umzug an Stadtmenschen verkaufen. Ihre neue Rolle: Wochenend- oder Ferienhäuser. „Wenn es so weiter geht, wird es nur noch alte Leute in Nadrag geben“, meint der Geistliche besorgt, „und Wochenendler“.
Münsteraner helfen in Nadrag
Rund 55.000 Euro spendeten die Mitglieder der Interessengemeinschaft „Hilfe für Nadrag“ aus Münster (Deutschland) für die Seniorensuppenküche in Nadrag im Laufe der vergangenen sieben Jahre. Über die Seniorensuppenküche, eine Sozialeinrichtung der Diözesancaritas Temeswar, bekommen derzeit 40 arme, alte und kranke Menschen mit geringen Renten täglich, von montags bis freitags, eine warme Mahlzeit. Am Anfang zählte die Suppenküche 15 Begünstigte und die Interessengemeinschaft ebenso viele Mitglieder, erinnert sich Bernhard Balsliemke, der Gründer der Interessengemeinschaft „Hilfe für Nadrag“. Wenn der Spendenbetrag zu Beginn bei 4000 Euro im Jahr lag, so kommt er nun auf 14.000 Euro für die 40 über die Suppenküche verköstigten Bedürftigen. Die Beiträge der zurzeit 31 festen Mitglieder der Interessengemeinschaft decken aber die Betriebskosten der Sozialeinrichtung nicht. Dafür sind noch jährlich drei-vier Vorträge und Spendenaufrufe nötig, die Balsliemke für die 40 Nutznießer gerne übernimmt. Weihnachtspäckchen für die Senioren, aber auch für die 37 Kinder in Nadrag, die über die Caritas-Tagesstätte ebenda betreut werden, gehören ebenso zu den jährlichen Hilfsaktionen der Interessengemeinschaft.
Im Zimmer von der Größe einer Abstellkammer
Eva Gabriel ist eine der 40 Begünstigten der Seniorensuppenküche in Nadrag. Die 72-Jährige wohnt allein in einer winzigen Einzimmerwohnung in den dreigeschossigen Wohnblocks. Aus einem klitzekleinen Vorraum fällt man fast geradeaus ins Zimmer ein. Im Vorraum rechts eine Tür, die zur Toilette mit Waschbecken führt. Eine Badewanne war hier überhaupt nie eingeplant. Die alte Frau gibt sich aber zufrieden damit.
Im Zimmer angelangt, können kaum zwei Personen im keine acht Quadratmeter großen Zimmer bequem aufrecht stehen. Auf der einen Zimmerseite reiht sich das Bett und ein Herd aneinander, auf der anderen Seite ein etwas höherer Schrank und daneben ein niedrigeres Möbelstück. Hiermit ist das Zimmer schon zum Überfluss ausgestattet. Man kann sich nur mühsam umdrehen, was für die alte, füllige Frau sicher keine Leichtigkeit ist. Sie beklagt sich aber nicht, lächelt nur resigniert. Ihre einzige Beschwerde: die großen Beinschmerzen. Sie versucht, genügend Bewegung zu machen und besucht die eine oder andere Nachbarin im Haus. Die Kälte und die Feuchtigkeit, die in der Stube der Alten herrschen, sind auch keine Hilfe für ihren Rheumatismus. Die Frau hat keinen Ofen. Den Raum beheizt sie mit dem Gasherd. Offene Flamme. „Wenn die Gasflasche leer ist, kaufe ich eine neue“, sagt sie lächelnd. Lebenslang war sie Hausfrau gewesen, hat aber im Garten und in der Landwirtschaft gearbeitet, war aber nie legal angestellt gewesen. Auch heute ist sie noch recht aktiv und verpflegt sich selbst, nach Möglichkeit. Unlängst legte sie Gemüse für den Winter ein und weist stolz auf ein paar Einweckgläser mit grünen Tomaten und rotem Paprika auf einem Schrank im Vorraum – alles was sie sich leisten konnte. Mit etwa 400 Lei, einer Hinterbliebenenrente, die ihr nach dem Ableben des zweiten Ehemanns zugeteilt wurde, muss sie monatlich auskommen. Sie wohnt allein und hat in Nadrag keine Angehörigen mehr.
Die zweifach verwitwete Frau hat aus der ersten Ehe drei Kinder: ihrem älteren Sohn in Rachita, wo sie selbst auch geboren ist und mit ihrem ersten Mann gelebt hat, fehlen beide Hände und das rechte Bein vom Knie abwärts. Ihre zwei Töchter leben in Fârdea bei Faget bzw. in Oltenien. Besucht wird sie ab und zu von der Tochter aus Fârdea. Zwei Enkelinnen hat sie auch, in Oltenien. Beide lernen und studieren, Der Weg ist weit und es kostet auch viel, rechtfertigt die Alte die seltenen Besuche ihrer Enkelinnen, während sie mich zur Wohnungstür begleitet. Ich bin froh, wieder draußen in der warmen Luft zu sein, um meine inzwischen kalt gewordenen Hände aufzuwärmen.
Russlanddeportation und Alleinsein im hohen Alter
Eine weitere Seniorin, die über die Suppenküche mit einer warmen Mahlzeit versorgt wird, ist Aurelia Esterle, eine 89-jährige Deutsche. Die Frau lebt allein in einer Sommerküche, denn das gegenüber liegende kleine Haus kann sie nicht mehr instand halten. An den Wänden sind die in einem deutschen Haushalt üblichen Wandschoner angebracht. „Ein Kuss in Ehren kann niemand nicht wehren“, ist auf dem einen zu lesen, die anderen hingegen sind nur mit Pflanzen-, Tier- und anthropomorphen Motiven verziert. Keine Sprüche. In der peinlich sauber gehaltenen Stube isst und schläft die alte Frau. Sie bewegt sich nur mühsam, auf zwei Stöcke gestützt, in den Hof, wo sich die Toilette befindet.
Die fast 90-Jährige ist seit mehreren Jahren Witwe und lebt allein. Ihr einziger Sohn, der mit seiner Frau in Nadrag wohnt, starb in diesem Sommer. Ihn überlebten noch zwei Söhne, die aber ihre Großmutter seit Jahren nicht mehr aufsuchten. Vollkommen vernachlässigt von der eigenen Familie wird die alte Frau nur von einem jungen Mann, der ihr täglich das Mittagessen bringt, besucht. Er ist ein ehemaliges Waisenkind, der nach Entlassung aus dem Kinderheim in Gawoschdia/Gavojdia (Kreis Temesch), nach Nadrag kam. Die alte Frau bot ihm eine Unterkunft in ihrem Haus an, seitdem kümmert der Fremde sich um die Alte. Auch Pfarrer Holschwander schaut vorbei, so oft er kann. Um sich mit ihr zu verständigen, muss man sie recht laut ansprechen, denn sie hört kaum noch.
Auf ihr Leben zurückblickend kommt ein schweres Los hervor: 1945 wurde sie als junge Mutter nach Russland verschleppt. Ihren kleinen Sohn überließ sie ihrer Schwester, die selbst vier Kinder hatte. Sie trennte sich von ihrem Jungen, mit der Begründung, sie müsste mal schnell in die naheliegende Stadt Lugosch fahren und mit dem Versprechen, ihn am Abend von der Tante wieder abzuholen. Das geschah auch, aber erst fünf Jahre später, als sie aus dem Arbeitslager in Wolodorka entlassen wurde. Tränen laufen aus ihren traurigen hellblauen Augen, während sie über ihre Russlanddeportation spricht. Ackerflächen eggen stand auf der Tagesordnung. Sie musste acht Stunden täglich hart arbeiten und bekam dafür nicht einmal ein Stück Brot. Manchmal bestand die Mahlzeit aus einem Stück Brot und einer Brühe, die sie darüber gossen, um etwas im Magen haben, schildert die Alte.
Im hohen Alter leidet sie nun an unzähligen Krankheiten. Sie nimmt hoffnungslos eine Tüte voller Medikamente in die Hand: nichts hilft mehr, meint sie dazu. Gehörgeschädigt, Lungen- und Nierenleiden, Rheuma und andere körperliche Beschwerden plagen die kleine zerbrechliche Gestalt der Alten. Jeder Besuch ist ihr eine Freude. Ihr Gesicht erhellt sich beim Anblick von Menschen, die über ihre Türschwelle hereinschreiten. Deshalb sieht sie auch unserem Abschied mit Tränen in den Augen entgegen. Zum Schluss bedankt sie sich für den Besuch. Etwas glücklicher.
Quelle: http://banaterzeitungonline.wordpress.com/2010/11/03/arbeitslosigkeit-armut-alter/